blindguard
21.12.05, 16:29
Die Legende vom Rattenmädchen
Von Marc Röhlig
Ein Mädchen schändet den Koran und wird zur Strafe von Allah in eine Ratte verwandelt. Das angebliche Beweisfoto empfangen muslimische Jugendliche per SMS. Die Furcht, selbst verwandelt zu werden, setzt in Europa eine Welle von Grusel-Nachrichten in Bewegung.
Ismail ist 15 Jahre alt und wohnt in einem Asylbewerberheim in Gera. Wie eine Trophäe zückt er sein Handy, die Jungs und Mädchen im Heim schauen ihm über die Schulter. Gleich wird er ein Bild öffnen, so absurd wie grausig. Die Mädchen werden wieder jammern und sich die Augen zuhalten, die Jungs wieder hinstarren und raunen.
Auf dem Handydisplay erscheint eine bizarre Gestalt, nackt und gekrümmt auf dem Boden. Aus dem Rücken wächst ein fleischiger Schwanz, dunkle Borsten sprießen überall aus dem Körper, Hände und Füße sind zu Krallen verkümmert. Das Gesicht ziert eine Rattenschnauze.
Um das schaurige Foto rankt sich eine seltsame Geschichte - sie handelt von einer jungen Muslimin und der ewigen Unvereinbarkeit von westlicher Lebens- und arabischer Denkweise: Angeblich lebte das Mädchen vor ihrer Verwandlung in den Niederlanden und schaute lieber Videoclips auf Musiksendern, statt den Koran zu studieren. Ihre Mutter nutzte den Fernsehraum zur gleichen Zeit zum Zwiegespräch mit Allah. Es kam zum Streit um die Vormacht im Wohnzimmer - Beats oder Beten. In jugendlicher Auflehnung packte die junge Muslimin das Koranbuch, trampelte darauf herum, schwor spontan ihrem Glauben ab - und wurde zur Strafe in eine Ratte verwandelt.
In Geras Asylbewerberheim kennt jeder diese Geschichte. Semra, 11, und ihre Schwester Sumera schauen stets angewidert weg, wenn das Foto herum gezeigt wird. Temu und seine Mutter plagen sich mit Alpträumen. Jüngere Kinder beginnen zu schluchzen, die älteren und Erwachsenen zucken ratlos die Schultern. Yusef, ein Zwölfjähriger aus Syrien, bringt es trotzig auf den Punkt: "Dies ist Allahs gerechte Strafe."
Typische Hoax-Meldung
Nun erzählen sich muslimische Jugendliche die Mär mit weiteren phantasievollen Wendungen zu Ende - mit Feuer, Krankenhaus, Käfighaltung, Exorzismen und schrecklichen Qualen. Übrig bleibt stets das Foto als vermeintlich untrüglicher Beweis für Allahs "gerechte Strafe" am ungläubigen Mädchen.
Die Mär vom Rattenmädchen, so mittelalterlich sie klingen mag, wird mit modernsten Mitteln verarbeitet. Seit drei Monaten wandert das Foto per E-Mail und SMS durch Europa und erreicht die muslimische Jugend. Der Deutschtürke Ismail hatte das Bild von einem Erwachsenen bekommen - nun hat er es selbst schon zwanzig Mal weitergesendet.
Die Geschichte kursierte bereits vor einigen Monaten in arabischen Ländern - dort "Cursed Girl Hoax" genannt. Ein Hoax ist eine Falschmeldung, die in der Art eines Kettenbriefes über E-Mail, SMS oder Instant Messenger wie ICQ oder AIM verbreitet wird. Weil viele Empfänger den Unfug für wahr halten, schicken sie ihn gleich an Freunde und Bekannte weiter.
Patricia Piccinini ist nicht amüsiert
Typische andere Hoaxes sind Glücksbriefe (mit der Drohung ernster Konsequenzen, wenn sie nicht weitergeleitet werden) oder angebliche Petitionen gegen die Steinigung einer Frau in Afrika. In manchen Briefen werden Knochenmarkspender für ein leukämiekrankes Kind gesucht, in anderen wird vor angeblichen Viren gewarnt oder verbreitet, was der Dalai Lama zum Jahreswechsel gesagt haben soll. Stets leiten Betroffene den Text tausendfach weiter, nach dem Prinzip: Kann ja nicht schaden. Der "Hoax-Info Service" der TU Berlin führt solche Falschmeldungen und Gerüchte zu Hunderten.
Die Gruselgeschichte vom "Cursed Girl" taucht dort allerdings nicht auf. Ihre wahre Entstehung ist simpel: Das Foto vom Rattenmädchen zeigt eine kaninchengroße Plastik der australischen Künstlerin Patricia Piccinini, geformt aus Silikon - eine Arbeit, die sich mit Genmanipulation auseinander setzt. Die dazugehörige Geschichte über den Koran ist frei erfunden.
Dass die Skulpturen aus ihrem Werk "Leather Landscape" für ein Horrormärchen zweckentfremdet wurden, bestürzt die Künstlerin. "Das Bild der Kreatur wurde geklaut, diese Verwendung war niemals Patricias Wunsch oder Absicht", ist auf Piccininis Webseite zu lesen. Die australische Künstlerin wisse nicht, wer den Hoax über den Koran erfunden habe, und sei erschüttert, wie viele Menschen durch die Geschichte verängstigt wurden.
Der Horror aus dem Handy zeigte Wirkung. Im Asylbewerberheim in Gera glaubten die meisten an das Rattenmädchen - so auch Ismail: "Natürlich ist die Story wahr, was glaubst du, wie man diese Bilder sonst erklären soll?" Von seiner Cousine will er sogar wissen, dass das Mädchen nun getötet werden soll, "damit die Schande von der Familie genommen wird".
Claudia Dantschke, Islamexpertin des Berliner Zentrums für Demokratische Kultur, war dem Phänomen auf der Spur. Basierend auf einer ominösen Kettenmail wanderten Foto und Geschichte vom Rattenmädchen zuerst durch den arabischen Raum, dann mit Übersetzung auch in die Türkei und nach Deutschland - stets mit dem Hoax-typischen Abschluss: "Versende diese Mail an zehn Freunde, wenn du nicht auch von Allah bestraft werden willst."
Wanderscherz oder gezielte Angstpädagogik?
"Natürlich ist die Erzählung eine Erfindung", sagt Dantschke. Trotzdem fallen viele, Kinder wie Erwachsene, darauf herein: Zu oft wird der Spuk verbreitet, zu korantreu ist die haarsträubende Geschichte.
Im Islam werden viele Geschichten mit Mythen und Monstern überliefert. Die Verwandlung als Strafe Gottes gehört auch dazu. Claudia Dantschke sieht in der Verbreitung solcher Märchen eine Strategie: "Im arabischen Raum werden Mythen genutzt, um den Glauben zu festigen - das ist gezielte Angstpädagogik."
Trotz der einfachen Erklärung erfolgt die Aufklärung nur zögerlich. Viele arabische Medien berichtigten ihre Meldung, gaben die Falschheit der Erzählung zu. "Aber am Kern des Problems wird nicht gearbeitet", warnt Islamexpertin Dantschke, "eine neue Horrormeldung kann jederzeit wieder die Jugendlichen verängstigen."
Dies bestätigt auch Asiye Köhler, Mitglied im Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) - Kinder und Jugendliche würden bewusst innerhalb ihres Glaubens betrogen. Die Wurzel solcher Lügen hat die Pädagogikbeauftragte des Zentralrats auch ausgemacht: "Primitiver Aberglaube". Offiziell dagegen vorgehen will der muslimische Rat dennoch nicht. Auch wenn deutlich gemacht werden müsse, dass Koranmärchen aus vergangenen Zeiten in einer "aufgeklärten Welt" keinen Platz mehr haben. Asiye Köhler meint, dass solche Horror-SMS nicht lange Bestand haben, denn: "Unsere Kinder sind einfach zu clever für solche Lügen."
Aufgeklärt sind nun auch die Kinder aus dem Asylbewerberheim: Mit großen Augen schauen Semra und Sumera, verblüfft und erleichtert. Auf solche Lügen wollen die beiden Schwestern nun nicht mehr reinfallen. Nur wenn das Bild gezeigt wird, dann halten sie sich weiterhin die Augen zu. Sicherheitshalber.
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http://www.spiegel.de/unispiegel/schule/0,1518,390750,00.html
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ich finde das eigentlich schon sehr beängstigend, denn wer weiß, was wirklich stimmt und was nicht. auch ein gesunder menschenverstand schützt doch letztendlich nicht vor gezielt eingesetzten falschinformationen und dadurch beeinflussung (durch wen auch immer) >:-(
Von Marc Röhlig
Ein Mädchen schändet den Koran und wird zur Strafe von Allah in eine Ratte verwandelt. Das angebliche Beweisfoto empfangen muslimische Jugendliche per SMS. Die Furcht, selbst verwandelt zu werden, setzt in Europa eine Welle von Grusel-Nachrichten in Bewegung.
Ismail ist 15 Jahre alt und wohnt in einem Asylbewerberheim in Gera. Wie eine Trophäe zückt er sein Handy, die Jungs und Mädchen im Heim schauen ihm über die Schulter. Gleich wird er ein Bild öffnen, so absurd wie grausig. Die Mädchen werden wieder jammern und sich die Augen zuhalten, die Jungs wieder hinstarren und raunen.
Auf dem Handydisplay erscheint eine bizarre Gestalt, nackt und gekrümmt auf dem Boden. Aus dem Rücken wächst ein fleischiger Schwanz, dunkle Borsten sprießen überall aus dem Körper, Hände und Füße sind zu Krallen verkümmert. Das Gesicht ziert eine Rattenschnauze.
Um das schaurige Foto rankt sich eine seltsame Geschichte - sie handelt von einer jungen Muslimin und der ewigen Unvereinbarkeit von westlicher Lebens- und arabischer Denkweise: Angeblich lebte das Mädchen vor ihrer Verwandlung in den Niederlanden und schaute lieber Videoclips auf Musiksendern, statt den Koran zu studieren. Ihre Mutter nutzte den Fernsehraum zur gleichen Zeit zum Zwiegespräch mit Allah. Es kam zum Streit um die Vormacht im Wohnzimmer - Beats oder Beten. In jugendlicher Auflehnung packte die junge Muslimin das Koranbuch, trampelte darauf herum, schwor spontan ihrem Glauben ab - und wurde zur Strafe in eine Ratte verwandelt.
In Geras Asylbewerberheim kennt jeder diese Geschichte. Semra, 11, und ihre Schwester Sumera schauen stets angewidert weg, wenn das Foto herum gezeigt wird. Temu und seine Mutter plagen sich mit Alpträumen. Jüngere Kinder beginnen zu schluchzen, die älteren und Erwachsenen zucken ratlos die Schultern. Yusef, ein Zwölfjähriger aus Syrien, bringt es trotzig auf den Punkt: "Dies ist Allahs gerechte Strafe."
Typische Hoax-Meldung
Nun erzählen sich muslimische Jugendliche die Mär mit weiteren phantasievollen Wendungen zu Ende - mit Feuer, Krankenhaus, Käfighaltung, Exorzismen und schrecklichen Qualen. Übrig bleibt stets das Foto als vermeintlich untrüglicher Beweis für Allahs "gerechte Strafe" am ungläubigen Mädchen.
Die Mär vom Rattenmädchen, so mittelalterlich sie klingen mag, wird mit modernsten Mitteln verarbeitet. Seit drei Monaten wandert das Foto per E-Mail und SMS durch Europa und erreicht die muslimische Jugend. Der Deutschtürke Ismail hatte das Bild von einem Erwachsenen bekommen - nun hat er es selbst schon zwanzig Mal weitergesendet.
Die Geschichte kursierte bereits vor einigen Monaten in arabischen Ländern - dort "Cursed Girl Hoax" genannt. Ein Hoax ist eine Falschmeldung, die in der Art eines Kettenbriefes über E-Mail, SMS oder Instant Messenger wie ICQ oder AIM verbreitet wird. Weil viele Empfänger den Unfug für wahr halten, schicken sie ihn gleich an Freunde und Bekannte weiter.
Patricia Piccinini ist nicht amüsiert
Typische andere Hoaxes sind Glücksbriefe (mit der Drohung ernster Konsequenzen, wenn sie nicht weitergeleitet werden) oder angebliche Petitionen gegen die Steinigung einer Frau in Afrika. In manchen Briefen werden Knochenmarkspender für ein leukämiekrankes Kind gesucht, in anderen wird vor angeblichen Viren gewarnt oder verbreitet, was der Dalai Lama zum Jahreswechsel gesagt haben soll. Stets leiten Betroffene den Text tausendfach weiter, nach dem Prinzip: Kann ja nicht schaden. Der "Hoax-Info Service" der TU Berlin führt solche Falschmeldungen und Gerüchte zu Hunderten.
Die Gruselgeschichte vom "Cursed Girl" taucht dort allerdings nicht auf. Ihre wahre Entstehung ist simpel: Das Foto vom Rattenmädchen zeigt eine kaninchengroße Plastik der australischen Künstlerin Patricia Piccinini, geformt aus Silikon - eine Arbeit, die sich mit Genmanipulation auseinander setzt. Die dazugehörige Geschichte über den Koran ist frei erfunden.
Dass die Skulpturen aus ihrem Werk "Leather Landscape" für ein Horrormärchen zweckentfremdet wurden, bestürzt die Künstlerin. "Das Bild der Kreatur wurde geklaut, diese Verwendung war niemals Patricias Wunsch oder Absicht", ist auf Piccininis Webseite zu lesen. Die australische Künstlerin wisse nicht, wer den Hoax über den Koran erfunden habe, und sei erschüttert, wie viele Menschen durch die Geschichte verängstigt wurden.
Der Horror aus dem Handy zeigte Wirkung. Im Asylbewerberheim in Gera glaubten die meisten an das Rattenmädchen - so auch Ismail: "Natürlich ist die Story wahr, was glaubst du, wie man diese Bilder sonst erklären soll?" Von seiner Cousine will er sogar wissen, dass das Mädchen nun getötet werden soll, "damit die Schande von der Familie genommen wird".
Claudia Dantschke, Islamexpertin des Berliner Zentrums für Demokratische Kultur, war dem Phänomen auf der Spur. Basierend auf einer ominösen Kettenmail wanderten Foto und Geschichte vom Rattenmädchen zuerst durch den arabischen Raum, dann mit Übersetzung auch in die Türkei und nach Deutschland - stets mit dem Hoax-typischen Abschluss: "Versende diese Mail an zehn Freunde, wenn du nicht auch von Allah bestraft werden willst."
Wanderscherz oder gezielte Angstpädagogik?
"Natürlich ist die Erzählung eine Erfindung", sagt Dantschke. Trotzdem fallen viele, Kinder wie Erwachsene, darauf herein: Zu oft wird der Spuk verbreitet, zu korantreu ist die haarsträubende Geschichte.
Im Islam werden viele Geschichten mit Mythen und Monstern überliefert. Die Verwandlung als Strafe Gottes gehört auch dazu. Claudia Dantschke sieht in der Verbreitung solcher Märchen eine Strategie: "Im arabischen Raum werden Mythen genutzt, um den Glauben zu festigen - das ist gezielte Angstpädagogik."
Trotz der einfachen Erklärung erfolgt die Aufklärung nur zögerlich. Viele arabische Medien berichtigten ihre Meldung, gaben die Falschheit der Erzählung zu. "Aber am Kern des Problems wird nicht gearbeitet", warnt Islamexpertin Dantschke, "eine neue Horrormeldung kann jederzeit wieder die Jugendlichen verängstigen."
Dies bestätigt auch Asiye Köhler, Mitglied im Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) - Kinder und Jugendliche würden bewusst innerhalb ihres Glaubens betrogen. Die Wurzel solcher Lügen hat die Pädagogikbeauftragte des Zentralrats auch ausgemacht: "Primitiver Aberglaube". Offiziell dagegen vorgehen will der muslimische Rat dennoch nicht. Auch wenn deutlich gemacht werden müsse, dass Koranmärchen aus vergangenen Zeiten in einer "aufgeklärten Welt" keinen Platz mehr haben. Asiye Köhler meint, dass solche Horror-SMS nicht lange Bestand haben, denn: "Unsere Kinder sind einfach zu clever für solche Lügen."
Aufgeklärt sind nun auch die Kinder aus dem Asylbewerberheim: Mit großen Augen schauen Semra und Sumera, verblüfft und erleichtert. Auf solche Lügen wollen die beiden Schwestern nun nicht mehr reinfallen. Nur wenn das Bild gezeigt wird, dann halten sie sich weiterhin die Augen zu. Sicherheitshalber.
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http://www.spiegel.de/unispiegel/schule/0,1518,390750,00.html
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ich finde das eigentlich schon sehr beängstigend, denn wer weiß, was wirklich stimmt und was nicht. auch ein gesunder menschenverstand schützt doch letztendlich nicht vor gezielt eingesetzten falschinformationen und dadurch beeinflussung (durch wen auch immer) >:-(